Worldbuilding: Errion – die Westlichen Küstenlande
Prinz Kahrion starrte mit ungebrochener Besessenheit auf die Karte vor ihm. »Der Fluchträger weiß sich gut zu verstecken, aber er muss hier irgendwo sein«, sagte er. Seine dünnen Finger trommelten unruhig auf das Pergament. »Er wird sich irgendwo in den Westlichen Küstenlanden verborgen haben ...«
Errion, auch bekannt als die Westlichen Küstenlande, ist das westlichste der Länder des Heiligen Einigen Reiches von Líohim und steht seit dem 13. Jahrhundert n. L. unter der Herrschaft der Herzöge von Santísmer, welche zugleich Kurfürsten des H. E. R sind. Es reicht vom Fluss Hoelor im Osten bis zu den zerklüfteten und schroffen Küsten der rauen errischen See im Westen, wohinter das unendlich weite Westermeer liegt. In den Herbst- und Wintermonaten ist das Wetter hier oft sehr unruhig, es gibt Stürme und Regen, der wie feiner Schleier über das Land weht. Im Norden werden die Länder von Errion durch die Menez Nivluínn, auch Nebelberge genannt, und der Halbinsel von Mauron begrenzt, im Süden durch die Wälder von Dírinion und dem Fluss Bruannon.
Das Wappen Errions ziert der dort so oft anzutreffende buttergelbe Ginsterbusch auf einem blauen Feld.
Überall an den Küsten und im Landesinneren liegen kleine Dörfer verstreut, deren Bewohner von der See, von den Fischen, Austern, Krebsen und Hummern, oder von den Leinfeldern, dem Webstuhl und dem Handel mit Segeltuch leben. Dazwischen jedoch finden sich in den dunkleren Teilen der Wälder, wo die Schatten noch tiefer sind, noch immer die Spuren der alten Zeit; große Ruinen ragen dort auf und die Hügelgräber und Felsriesen der Celdennen, schweigsam und ahnungsvoll und voller Erinnerungen. Ihnen schenkt man allerdings für gewöhnlich keine Beachtung; ja, man meidet sie eher, denn sie gehören den Toten und den Vergangenen und sollen jenen Unheil bringen, die nicht zu ihnen gehören.
Die Geschichte Errions wird von den Magistern in drei grobe Abschnitte gegliedert, wobei erwähnt werden will, dass sie sich wohl kaum tatsächlich so klar aufteilen ließ, wie man es sich in Nîssus wünscht, und sich der genaue Zeitpunkt erster menschlicher Besiedelung in diesem Land nicht mehr nachvollziehen lässt, wie es vielerorts der Fall ist.
In den Tagen des Grauen Alters, womit die Niederschriften der Magister beginnen, hauste das Volk der Celdennen in diesen Landen. Über dieses dunkle Zeitalter ist – wie über die Celdennen selbst – kaum mehr etwas bekannt, da die Celdennen über keine Schrift verfügten und die wenigen Zeichen, die sie hinterließen, nicht mehr zu deuten sind. Sein Beginn liegt, wie bereits angemerkt, im Dunkel, doch sein Ende ist dafür umso deutlicher festzulegen, denn es wird von dem Einfall der Erriennen markiert, die unter der Führung Bramyns des Eroberers aus dem Norden kamen. Dies dürfte in etwa zu Beginn des zweiten Jahrhunderts n. L. geschehen sein, wobei sich die Magister auch hier auf Schriften stützen müssen, welche aufgrund diverser Übertragungen im Laufe der Jahre als nicht ganz verlässlich angesehen werden müssen.
Mit dem Einfall der Erriennen beginnt das Helle Alter. Bramyn und seine Gefolgsmänner bekriegten die Celdennen, trieben sie von den Küsten immer weiter landeinwärts und zu den Bergen hin, bis sie sie schließlich aufrieben und in der Schlacht von Cairn vernichtend schlugen. Damit erlosch das Geschlecht der ersten Menschen Errions; so jedenfalls behaupten es die Chroniken jener Kriege, welche später auf Geheiß der Erben Bramyns abgefasst wurden. Nachdem die Celdennen und ihre dunklen Götter ausgetrieben waren, wurde Bramyn der Eroberer zum ersten König Errions gekrönt und erbaute zwischen den Tideflüssen Anneon und Belenneon, an der Stelle, an der er mit seinem ersten Schiff gelandet war, die Stadt und die Burg Santísmer, welcher über die nächsten zweitausend Jahre der Herrschaftssitz in den Westlichen Küstenlanden sein würde.
Das helle Alter, unter der Herrschaft der Alten Westkönige, die auf Bramyn folgte und von seinem Blut war, war eine Zeit des Friedens, auf welche die Menschen Errions noch heute gerne und voller Stolz zurückblicken. Das Helle Alter sah die Festigung Santísmers und ihren Wachstum zu einer bedeutenden Handelsstadt mit Schifffahrtsverbindungen sowohl nach Süden, wo zur gleichen Zeit das Königreich von Numis unter den Silberkönigen das arnische Meer beherrschte, wie auch zum Norden, wo die Häfen von Nír Ammharís, Borrynshafen und Norínsfell angelaufen wurden. Über Santísmer gelangte so auch erstmals das Schwarze Salz des Nídis in die Länder des Südens.
Wenngleich Santísmer in jenen Jahren an Bedeutung gewann, so muss doch auch festgehalten werden, dass die tatsächliche Macht des Königreichs Errion in den ersten Tagen des Hellen Alters zunächst nur das Land unmittelbar um die Stadt und im Osten die Länder von Errenhír umspannte; erst nach und nach sollten die Halbinsel von Karamer, die Wälder von Dirinion, die Halbinsel von Mauron und die Marken von Keredaín bis an den Erríbrand unter die wirkliche Kontrolle der Könige gebracht werden. Dies verlief wahrlich nicht immer gänzlich friedlich, denn vielerorts weigerten sich die Oberhäupter der dort entstandenen Siedlungen erst, sich dem König zu beugen. Der Streitzug Canors des Kriegers, des vierzehnten der Alten Westkönige, sei hier nur beispielhaft erwähnt: Er brach mit einem Heer von zweitausend Mann auf und unterjochte die aufrührerischen Menschen Karamers, schlug mehrere Schlachten (die größten in der Schwarzen Bucht und an den Ufern des Bruannon, von wo aus er nach Hoelshafen zog, sich dort neu formierte und eine Tochter des geschlagenen Fürsten ehelichte, Dirinion durchquerte und sicherte, das Grab von Neas und Nuala aufsuchte und schließlich bis an den Fluss Edís und die Stadt Ederas gelangte, eine freie Stadt, die keinen König kannte. Dort erst endete er seinen Zug und kehrte nach Santísmer zurück. Unter seiner Herrschaft erreichten die Westlichen Küstenlande im Hellen Alter die größte Ausdehnung.
Von diesen Zügen abgesehen wären noch die Belagerung von Cairn und die zweite Schlacht von Cairn, der Steppenkrieg gegen Ederas (eine Nachfolge des unangekündigten Auftauchens Canors mit bewaffneten Truppen in der freien Stadt), der fehlgeschlagene Feldzug gegen Numis sowie die Schlacht am Anneon als kurzzeitige Ausnahmen des ansonsten so beständigen Friedens zu erwähnen.
Nennenswert unter den Alten Westkönigen sind darüber hinaus die Brüder Alain und Melael, Hoel der Erste, Erech der Ältere, Hoel der Dritte, Caél Zweitod (auch der Niegestorbene genannt), Hael der Lange, Melaer der Stolze und Ewen der Edelmütige; über ihre Taten soll jedoch an anderer Stelle ausführlicher berichtet werden.
Mit dem Tod Alains des Jüngeren, welcher keinen eindeutigen Erben vorzubringen hatte, wodurch es zu verschiedensten Anspruchserhebungen und Streitigkeiten kamen, versiegte nicht nur die Linie Bramyns, es endete auch die Herrschaft der Alten Westkönige und mit ihnen das Helle Alter. Die Westlichen Küstenlande verfielen auf lange Zeit in Unruhe. Es kam zu Überfällen aus dem Norden und zu ersten Angriffen von Piraten aus dem Kupfermeer, die nach der Vertreibung aus dem arnischen Meer nun die errische See unsicher machten. Der Handel mit dem Rest des Großkontinents, insbesondere Numis und dem allmählich aufstrebenden Fürstentum von Arnis, der Errion durch Silber und dann Gold, einen gewissen Wohlstand eingebracht hatte, kam dabei fast gänzlich zum Erliegen; ebenso endete Santísmers Funktion als großer Handelshafen für das Schwarze Salz des Nídis, welches fortan auf direkterem Weg über die Flüsse nach Líohim und die Länder des Ostens gebracht wurde.
Nach der Schlacht der Gezeiten und der Großen Plage, über welche genauer in den Berichten zu der Stadt Santísmer erzählt wird, und den langen Jahren der Zerrüttung sollte die Geschichte Errions eine dramatische Wendung erfahren, als Líohim im Jahr 1050 n. L. den Blick auf die Westlichen Küstenlande richtete, mit dem Ziel, sie in das Heilige Einige Reich einzubinden. Zum damaligen Zeitpunkt hatten die Großkaiser bereits sämtliche andere Ländereien im Süden des Großkontinents in diesen Bund geholt.
Die Menschen Errions jedoch leisteten Widerstand und als die Heere Líohims unter Führung von Großkaiser Zenon den Hoelor überschritten und nach Santísmer marschierten, rauften sie sich zusammen und wählten einen neuen König, mit dem die Würde der Alten Westkönige erneuert werden und der sie im Kampf gegen den Osten vereinen sollte: Hoel den Mutigen. Tatsächlich gelang es Hoel, eine Streitmacht aufzustellen, die sich der von Líohim in den Weg stellte und sie eine Weile aufzuhalten vermochte. Jedoch war Hoel keine lange Herrschaft beschieden; er fiel in der Schlacht der schwarzen Bäume im Frühsommer 1085. Der Widerstand Errions hielt nach ihm noch weitere vier Könige und 15 Jahre an, doch schlussendlich wurde die Zähe und die Unbeugsamkeit Errions von der schieren Übermacht Líohims gebrochen. Im Winter des Jahres 1100 n. L., welcher ein besonders harscher war, konnte es sich nicht mehr länger halten und so wurden die Westlichen Küstenlande nach einer finalen Unterredung zwischen Großkaiser Zenon, der eigens anreiste, und Nominoe dem Namenlosen, der damals König war, endlich in das H.E.R. eingegliedert. Nominoe wurde diese Schwäche nie verziehen; er wurde von den Menschen Santísmers verjagt und es heißt, dass er im Jahr 1109 auf der Halbinsel von Mauron alleine, verarmt und von Sinnen im Exil zu Tode kam.
In den Folgejahren wurden die Neuen Westkönige zwar durch Kaiser Mereon noch geduldet, konnten sich jedoch nicht mehr lange halten. Ihre Macht und ihr Ansehen im Volk war erschüttert und wurde durch verschiedenste Probleme – darunter Erbschaftsstreitigkeiten und sich daran entzündenden Kriegen (so etwa dem berüchtigten Ginsterkrieg), Treuebrüche, der Missionierung Errions hin zum Glauben der Fünfheit Líohims und den Aufständen, die damit einhergingen, der Mordfrage an Tihel dem Knecht und anderen Zerwürfnissen – immer mehr ruiniert, bis man sie letztlich nach dem vorzeitigen Tod von Melael dem Geringeren absetzte.
An ihrer Stelle wurden nach dem Großen Rat des Westens, der im Jahr 1248 n. L. einberufen wurde und welchem die hohen Familien Errions, ein Vertreter des Kaisers von Líohim, sowie verschiedene angesehene Persönlichkeiten und Vertreter der Fünfheit von Líohim angehörten, die Herzöge von Errion eingesetzt, welche die Westlichen Küstenlande fortan als Kurfürsten des H. E. R. regieren sollten – und dies bis heute tun. Während ihrer Regentschaft wurde die errische See wieder gesichert, die Handelsbeziehungen wieder aufgenommen und die Westlichen Küstenlande fanden wieder zu alter Stärke und altem Wohlstand zurück. Dies war vor allem für Líohim von großem Interesse; als wichtigstes Grenzland zum Norden sollte Errion stark und sicher sein.
Dies erwies sich spätestens im Jahr 1695 n. L. als richtig: als Graukönig Irion von Istansgard, König im Norden, dem H. E. R. und all seinen Ländern wegen ihrer aggressiven Expansionspolitik offen den Krieg erklärte. Der Konflikt, welcher daraus erwuchs und im Nachhinein als der Große Reichskrieg bekannt wurde, traf neben den Grenzlanden im Inneren des Kontinents zwischen den Flusslanden und der Mark Líos und den Nebelbergen vor allem die Westlichen Küstenlande mit besonderer Härte. Der Norden entsandte von seinem Stützpunkt in Nairn eine Flotte mit so verheerender Kampfkraft, wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Diese Schiffe waren nicht mehr aus Holz gefertigt, sondern aus schwarzem Eisen, und sie waren bestückt mit neuen Waffen, die stärker waren als alles, was die Schmieden Errions und selbst die von Constynus aufzubieten vermochten, wodurch es ihnen ein Leichtes war, die Flotten Errions aufzureiben. Santísmer fiel unter Belagerung.
Immer weiter drang die Schwarze Flotte nach Süden vor, fielen über die Küsten her und schnitten Errion zuletzt gänzlich von den übrigen Ländereien und damit von den Nachschüben ab, die über See von Líohim kommen sollten. Im Jahr 1771 n. L. kam es mit der Seeschlacht in der Bucht vor Santísmer zu einem letzten Aufgebot Errions durch Herzog Corentyn dem Harten, zu welcher sämtliche verbliebenen kampffähigen Männer aus dem Land und alle tauglichen Schiffe und Boote bis hinab nach Hoelshafen eingezogen wurden. Sie ging nur deswegen zugunsten Errions aus, da kurz zuvor ein Befehl von Istansgard aus erteilt worden war, welcher einen Großteil der Schwarzen Flotte nach Nairn zurückgerufen hatte, und da Errion unerwarteterweise im letzten Moment Unterstützung durch die Flotte von Constynus bekam, die sich bisher auf Geheiß von Líohim zurückgehalten hatte, sich nun aber in Hoelshafen mit der verzweifelten Streitmacht Corentyns zusammenschloss.
In etwa zur gleichen Zeit nämlich war es auf den Feldern von Brahí zu einer Schlacht gekommen, welche die Kriegsanstrengungen des Nordens brach und das Blatt wendete. Der siegreiche Kaiser Valentynian zog nun seine Truppen gen Norden, trieb die Feinde zurück und versenkte nach einer letzten Schlacht die gesamte Schwarze Flotte bis auf das letzte Schiff und vernichtete die Werften von Nairn.
So versanken auch die Schwarzen Eisenschiffe vor Errion, in der See und im Vergessen. In den Jahren nach dem Krieg, unter dem Schutz des Friedensvertrags von Brahí, erstarkten die Westlichen Küstenlande wieder. Auf der Halbinsel von Mauron wurde ein Wachturm errichtet, welcher allerdings nur ein Jahrhundert lang wirklich aufmerksam bemannt wurde. Danach wurden dorthin nur noch jene zur Strafe entsandt, die ihren Dienst in der Stadtwache von Santísmer nicht ordentlich verrichteten.
In jüngerer Geschichte wäre dann noch der Zweikönigskrieg von Hoeghain zu erwähnen, auch bekannt als der Widderkrieg; in dessen Zuge nämlich wurde die Addenmark, die ja eigentlich östlich der Blauen Berge liegt, ein Teil der Westlichen Küstenlande.
Die alte Sprache Errions, welche noch Begriffe und Eigennamen der Celdennen kannte, ist im Jahr 1877 n. L. so gut wie ausgestorben; nur wenige der Ältesten sind ihrer noch in Bruchstücken fähig.
Auch der Glaube an die Alten Götter des Westens, der von den Celdennen herrührte, wird heute nicht mehr gepflegt. Dies liegt hauptsächlich an der Missionierung im Zeichen der Fünfheit von Líohim, die auf die Eingliederung ins H. E. R. folgte, und die jedweden anderen Glauben verbot. In der höchsten Not wenden sich die Menschen allerdings doch noch an die Alten Götter, deren Macht, wenngleich auch schwach, den Westlichen Küstenlanden noch immer inne sein soll.
Heute, im Jahre 1877 n. L. ist Errion weithin vor allem bekannt für die Stärke, den Stolz und die Zähe seiner Bewohner, die sich trotz des Standes Errions als Kurfürstentum des H. E. R. nach wie vor als eigenständiges Volk betrachten; darüber hinaus für seine gesalzene Butter, seinen schaumigen Apfelwein, der aus glasierten Keramikbechern getrunken wird, für die etwas gewöhnungsbedürftige Musik von Bombarden und Talabarden und natürlich für den Hafen und die Stadt von Santísmer, mit ihren Mauern und der Herzogsburg aus hellem Sandstein auf dem Felsenhügel.
Das Leben in den Westlichen Küstenlanden verläuft ruhig, und seit vielen Jahren schon geschah nichts mehr, was mehr als eine Randnotiz in den Chroniken der Magister wert wäre – bis zu jenem verhängnisvollen Julitag im Jahre 1877 n. L.; jenem Tag, an dem sich die Fäden des Schicksals und der Zukunft der Menschheit über Bailín, einem der vielen unscheinbaren Küstendörfer, kreuzen …
Was dann geschieht, wie es soweit kam und was es mit Amkash, dem Namenlosen Schrecken, Sekhems Fluch und seinen Trägern auf sich hat, erfahrt ihr in Das Schicksal der Fluchträger – Teil 1 & 2